ICE 905 – Zug des Grauens
Hamburg, eine lauer Abend auf dem Hauptbahnhof.
An Gleis 12 versammeln sich jene, die im Laufe des Tages hier gestrandet sind, Menschen denen Hamburg zwar nett finden aber doch lieber in Berlin schlafen, Fußballfans, PartyPeople und Leute, die nach der Arbeit nur nach Hause wollen.
Es ist 21.51 Uhr, Zeit für die letzte ICE-Verbindung nach Berlin, der letzte Zug, der noch am selben Tag die Hauptstadt erreicht… oder erreichen sollte.
Die Fahrt beginnt pünktlich, ich finde Platz direkt hinter meinem reservierten Platz, der von oberwichtigen Craft-Beer-Djs schon in Altona okkupiert wurde (was interessiert auch die Lampe, die da über dem Sitz leuchtet – wir sind cool!). Da genug Platz da ist, entscheide ich mich heute, nicht auf meinem Recht zu bestehen (und bin damit automatisch der Coolere..).
Der Zug rollt pünktlich ab und ich überlege kurz, ob ich ob des Lärmpegels zwischen Craft-Beer-Fans und Freiburger Absteigern nicht doch einen Platz in einem anderen Waggon suchen soll, entscheide mich aber dafür meinen Bluetooth-Umweltignorator aufzusetzen und das Zug-WLAN mit meinem Deezer-Stream (man hat ja StremOn…) zum Glühen zu bringen.
Und schwupps, ist die Welt wieder schön…
Zwischenhalt Büchen, alles läuft. Doch ich bemerke schnell, dass der Zug irgendwie nicht mehr so richtig aus dem Knick kommt. Ein Signal, irgendein verirrter Zug, es wird wieder etwas länger dauern, denke ich.
Dann steht er ganz. Keine Bewegung mehr.
Noch merken die meisten es nicht so recht, dann breiten sich die ersten unruhigen Fragen im Zug aus. Wieso stehen wir?
Dann kommt die Ansage, die den bisher fast normalen Tagesablauf aus der Balance kippt. „Störung am Triebwagen“, die lapidare Mitteilung. Man wisse derzeit nichts genaueres. Wie immer die Bitte um Geduld und Verständnis, welches ein Berliner dank der SBahn ohnehin schon nicht mehr hat.
WLAN weg, Steckdosen aus… die Welt der Zivilisation, wie sie die Craft-Beer-Jungs und viele andere Wohlstandsmenschen im Zug umgibt, beginnt schwer zu bröckeln. „Ich kann nicht mal jemanden anrufen, ich habe kein Netz…“, jammert irgendwo hinter mir jemand. Ich rolle innerlich mit den Augen.
Vor mir macht man sich sorgen, ob genug Bier da ist und ein Rauch-Aktivist sieht sich dem Tode nah, wenn der Zug hier lange stünde und er nicht rauchen könne. Sofort bildet sich eine Selbsthilfegruppe, die die Möglichkeiten einer Türöffnung erörtert um den Rauchern an Bord das Leben zu retten.
Inzwischen geht auch das Licht im Zug bis auf die Notbeleuchtung aus, der Schaffner erklärt den Vorgang des Batterie-Neustarts persönlich im Waggon.
Dann jedoch der Ausbruch der Katastrophe: „Zug defekt, wir evakuieren alle Fahrgäste in einen Ersatz-ICE sobald dieser hier eingetroffen ist!“, lautet die nächste Durchsage.
Das Leben läuft für einige im Zug jetzt in sekundenschnelle als Film vor ihrem inneren Auge ab.
Sie werden den Tisch im Club nicht mehr bekommen, Onkel Ewald steht vergeblich am Bahnhof um sie abzuholen, der Akku ist fast alle.
Wie solle man jemals nach Hause gelangen?
Hektisches telefonieren. „Benachrichtigt die anderen, für mich ist es zu spät… begrabt meine Gebeine wenn sie in Berlin ankommen! Wartet nicht auf mich, ich werde evakuiert…“
Zur Untermalung beginnen im Ort neben der Gleisstrecke die Sirenen zu heulen, einige panische Blicke geistern durch den Zug: „Riecht es hier nach Rauch, brennt etwa der Zug…?“
Doch das einzige was hier riecht ist der Zigarettenqualm, der mittlerweile, sehr solidarisch übrigens wenn die Lüftung des Zuges nicht funktioniert (für alle Craft-Beer-Boys und andere hysterische Süchtige und Egoisten) , aus der Zugtoilette dringt.
Die freiwillige Feuerwehr rückt an um ihren vermutlich (oder lieber hoffentlich) dramatischsten Einsatz des Jahres zu absolvieren.
Die Absteiger singen „Hurra, hurra… die Feuerwehr ist da!“, die Raucher wähnen ihre nahende Rettung und fragen sich, ob die Umsiedlung in einen neuen Zug ausreiche eine zu rauchen.
Der große Moment ist gekommen: Der ICE-Ersatz aus Berlin ist da!
Die Evakuierung kann beginnen, einige, bemerkt eine ältere Frau, werden ihren Kindern und Enkeln noch von der lebensgefährlich, dramatischen Rettung auf freier Strecke berichten.
Ungeduldiges Warten, kramen mit dem Gepäck. „Wieso kommt denn keine Ansage?“, maulen manche.
„Der Zug wird Wagen für Wagen evakuiert“, erklärt der DB-Werkstattmitarbeiter, der in privater Mission im Zug sitzt und dessen Arbeit sicherlich bei einigen gedanklich mit Zweifeln bedacht wird, die aber zum Glück unausgesprochen bleiben.
Die Grundstimmung im Zug ist zwar nicht unbedingt negativ, aber ein lustiger AfD-Nazi hätte ohne Zweifel jetzt keine Mühe das Kommando zu übernehmen und mit der Forderung „Deutsche zuerst!“ militante Horden um sich zu scharen.
Zum Glück findet sich solch einer nicht unter den zu großen Teilen ja doch mehrheitlich besonnenen Menschen des Zuges (oder er ist gerade zum Rauchen auf dem Klo).
Im gegenüberliegenden Zug läuft jemand mit einem Cello-Koffer durchs Bild, jemand bemerkt „wenigstens haben wir Musik!“. Jemand merkt an, dass die auf der Titanic bis zuletzt gespielt hätten, wir seien also vermutlich alle verloren… Gelächter im Waggon.
Auf der anderen Zugseite muss der letzte ICE nach Hamburg am Signal ebenfalls anhalten, den Leuten in diesem Zug entgeht die Show, die wenige Zentimeter entfernt von ihnen stattfindet.
Irgendjemand morst SOS mit dem Feuerzeug, aber offenbar hatte niemand, mich eingeschlossen, genug Ressourcen mit panischen Gesicht ein Pappschild auf dem „Holt uns hier raus, sie kommen uns holen!!!“ ans Fenster zum Nachbarzug zu halten.
Dann endlich Bewegung, Abmarsch in den hintersten Waggon.
Die freiwillige Feuwerwehr hilft Bedürftigen die klapprige Nottreppe hinunter und gegenüber wieder hinauf, reicht die Gepäckstücke weiter.
Auch ich wechsele den Zug und gelange (der Pöbel wird ja immer zuletzt gerettet), in die bereits wieder belegte erste Klasse des Ersatzzuges.
Kaum gerettet, hört von den Fahrgästen auch niemand mehr auf Vernunft oder Anordnungen: Die meisten lassen sich auf die ersten, besten Plätze fallen, so dass der hintere Zugteil später mächtig voll ist, während die vernunftbegabten einfach immer weiter durch den Zug gehen und dafür mit ruhigen, halbleeren Wagen belohnt werden.
Ab hier fand ich die Fahrt so richtig entspannend.
Mit mehr als zwei Stunden Verspätung ging es dann im Affenzahn (war ja niemand außer uns mehr auf der Strecke) nach Berlin.
Ich bedanke mich hier aus der Entfernung für die gute Arbeit, die das Zugteam geleistet hat .
Dafür wie sie den unverschämtesten Anfeindungen durch Menschen freundlich widerstanden haben, die von sich meinten, mit dem Zugticket hätten sie die ganze Bahn käuflich erworben und sie selbst seien etwas besonderes. Anders jedenfalls als der sonstige Pöbel im Zug.
Gut, dass es auch einige Menschen gab, die noch im Ersatzzug zum Zugteam gegangen sind, um ihnen genau das zu sagen.
Fremdschämen kann man sich nur für den Teil der Wohlstandspaniker unter den Fahrgästen, die schon das Geld für ihr Ticket zurückfordern, wenn das WLAN nicht geht.
Besonders fremdschäme ich mich für die Lebensfremdheit der Frau aus Berlin-Dahlem, die allen ernstes einen Taxi-Gutschein wollte, weil sie in Berlin ja nun „anderthalb Stunden, eine Ewigkeit“ bis nach Hause bräuchte.
Normale Ankunftszeit in Berlin wäre kurz vor Mitternacht gewesen. Wie hätte sie da nach Hause gefunden?
Für mich selbst bleibt mal wieder ein aufregender Tag und die Fortsetzung der Serie von Fahrgastrechte-Formularen, die seit dem letzten Sommer (terroristischer Kabelklau) bei Strecken mit dem Ort „Hamburg“ im Plan ununterbrochen ist. Das letzte ist erst 14 Tage alt.
Das ist es am Ende, was einen wirklich ärgert!
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